Giessen, 31.5.19. Fast hundert Besucher füllten die Werkstattkirche bis auf den letzten Platz bei der Premiere des ersten Nordstadt-Theaters „Leben und Streben in der Nordstadt“. Die Oberbürgermeisterin und Schirmherrin des Theater-Projektes gab in Ihrem Grußwort zu Beginn ihrer Freude Ausdruck, dass es der Werkstattkirche gelungen ist, ein so ehrgeiziges und anspruchsvolles Projekt in der Nordstadt umzusetzen.
Die Entwicklung des Stückes und die Regie lagen bei Achim Weimer, aktiv in der „Kleinen Bühne Gießen“ und Leiter des Tinko-Unternehmenstheaters. Aus Erzählungen, Erfahrungen und Anmerkungen von verschiedenen Menschen im Netzwerk der Werkstattkirche entstand ein humorvolles und zugleich nachdenkliches Theaterstück.
Die Nordstadtbewohner, gefangen in ihren Alltagssorgen und –problemen, wie Mülltrennung, Streitereien mit Nachbarn u. a. wurden überzeigend dargestellt von Renate Binder, Brigitte Geist, Marianne Heyne, Gerd Oeler und Raffaelle Polizza. Aber nicht nur um solche individuellen Alltagssituationen ging es in dem Stück. Immer wieder mahnte die Mutter Erde ihre Menschenkinder zum sorgsamen Umgang mit der Natur. Gudrun Schöpe, der Sonnenblumenfrau aus der Nordstadt, war diese Rolle wie auf den Leib geschrieben. Tritt sie doch in ihrem praktischen Leben überall für die Bewahrung der Natur mit allen ihren Kreaturen ein. Folgerichtig umkreiste ihr kleiner Hund mit dem passenden Namen „Luna“ (übersetzt: Mond) sie auch auf der Bühne, wie er sie auch sonst überall hin begleitet. Inmitten von Müll muss die Mutter Erde mit ansehen, wie die Menschen auf ihren eigenen Untergang zusteuern und in ihrer Einsamkeit und Ich-Bezogenheit einander nicht wirklich wahrnehmen und so ihrem eigenen Glück selbst im Wege stehen.
Eine von ihnen, Hannelore Kleinmüller, stellt sehr hartnäckig die Fragen nach Schuld und Verantwortlichkeit für ihr eher ungeliebtes Leben. Sie wird von Silvia Weingarten sehr ausdrucksstark und temperamentvoll dargestellt. Im „Büro des Lebens“, einer zwischen Himmel und Erde angesiedelten „Klärungs- und Beratungsstelle“, insistiert sie darauf, wenigstens nachträglich andere Eltern zugesprochen zu bekommen. Den „Lebensberater“, einen einerseits recht lethargischen und etwas vertrottelten, aber anderseits messerscharf analysierend und geschickt konternden, ungewöhnlichen „Beamten“ spielt Markus Hugo Burgert anschaulich und souverän. Er kann den Wünschen der „Klientin“ nach neuen Eltern nicht entsprechen und sie auch nicht davon überzeugen, ihr Leben anzunehmen und etwas daraus zu machen.
Das gelingt erst, als ein der mit seiner „Tante-Käthe-Ballonmütze“ unnachahmliche Raffaelle Polizza ihr sein eigenes Leben zum Tausch anbietet, um ihr „einen Gefallen zu tun“. Gemeinsam landen sie dann in der Werkstattkirche, wo man anders miteinander umgeht: Dort kümmert man sich umeinander, kocht und isst gemeinsam das, was andere nicht mehr kaufen wollen, repariert Geräte und Gegenstände, die nicht weggeworfen werden müssen, hilft einander und ist für andere da.
„Das Stück hat durch viele Veränderungen und eigene Interpretationen der Darsteller einen sehr intensiven und dynamischen Entwicklungsprozess durchgemacht“, berichten Bärbel Weigand und Christoph Geist von der Werkstattkirche. „Die Darsteller haben sich so das Stück in ihrer Rolle mehr und mehr angeeignet und sich dabei zu einem großartigen Team entwickelt. Wie die auf der Bühne Spielenden war auch das Publikum eine sonst kaum zu erlebende bunte Mischung aus unterschiedlichsten Schichten und Milieus.“
Stimmen von Zuschauern der Premiere:
Michael Meyer, Lehrer an der Richarda-Huch-Schule mit besonderem Auftrag für Theaterarbeit: „Spannend, vom Publikum bis zu den Schauspielern, es gab unheimlich viel zu sehen. Interessant, die „Mitmach-Bewohner“ im Menschenhaus. Ohne jegliche vornehme Zurückhaltung beteiligt man sich, ruft nach einem Mikro, lässt Kommentare fröhlich ab, kommuniziert, wie es in einem solchen Raum sein soll. Authentisch. Ohne falsche Ehrfurcht… “
Oberbürgermeisterin Dietlind Grabe-Bolz:
Das Theaterprojekt „Leben und Streben in der Nordstadt“ kommt passenderweise an dem Ort zum Aufführung, an dem Begegnung, Austausch, Wertschätzung, Unterstützung erfahren wird, der Werkstatt-Kirche! Es ist toll, dass die Laienschauspieler aus der Nordstadt Zugang zum Theaterspielen bekommen. Denn Theaterspielen bedeutet sich auszuprobieren, in andere Rollen zu schlüpfen sich etwas zu trauen und Selbstbewusstsein zu gewinnen. Theaterspielen ist auch kulturelle Bildung. Uns als politisch Verantwortliche der Stadt Gießen ist es wichtig, dass die Nordstaat ein Ort der Bildung ist. Die Aufführung war sehr beeindruckend. Sie hat Einblicke in das Leben der Menschen in der Nordstadt ermöglicht. Die Laienschauspieler/innen haben eine tolle Leistung erbracht. Dank gebührt Pfarrer Christoph Geist und Frau Bärbel Weigand.“
Mehr dazu auf der Homepage der Werkstattkirche:
www.werkstattkirche.de/neuigkeiten
Das Projekt wurde unterstützt durch die Stiftung Anstoss.